Weinkolumne von Axel Biesler: DER KLEINSTE GEMEINSAME NENNER


Die Wein-Schweiz verfügt über nur rund 15.000 Hektar Rebfläche und schafft es dennoch, fast den gesamten europäischen Weinbau darin nicht nur minutiös abzubilden, sondern auch ihrem eigenen Stil treuzubleiben. Eine Spurensuche im Kleinen.

VON AXEL BIESLER 

Wie heißt die Hauptstadt der Schweiz? Zürich, Basel, Luzern, Lausanne oder Bern? Keine der genannten, denn das kleine Land besitzt laut Gesetz gar keine Kapitale. De facto werden die Schweizer Regierungsgeschäfte in der Stadt Bern erledigt, die wiederum nennt sich Bundesstadt. Bund statt Haupt. Da geht es schon mal los. Es gibt auch keine Amtssprache, sondern derer gleich vier: Deutsch, Französisch, Italienisch und Rätoromanisch. Letztere sind vor allem in Graubünden vor dem Aussterben bedrohte Mundarten. Wir wollen an dieser Stelle nicht die Geschichte der Eidgenossen aufrollen, die Autonomie ihrer Kantone loben oder ihre Volksentscheide hinterfragen. Es soll um Wein gehen. Um Schweizer Wein.

Deutschland ist rund neun Mal so groß wie die Schweiz, deren Fläche zudem zu gut einem Viertel als »unproduktiv« gilt, weil sie oberhalb der Baumgrenze liegt. Dennoch dürften Unterschiede auf so engem Raum in keinem weinbautreibenden Land der Erde größer sein als in der Schweiz. Auch in Sachen Wein ist sie mehr Bündnis als Einheit. Wenn sich Bordeaux für Frankreich, Chianti für Italien oder der Riesling für Deutschland als vinophile Visitenkarten international etabliert haben, tut es die Wein-Schweiz ihren Amtssprachen und dem Anspruch ihrer 26 Kantone auf Autonomie gleich. Ein Wein-Mikrokosmos, der die Weinkulturen seiner Nachbarländer assimiliert und dabei eigene hat entstehen lassen. Davon viele. Und alle sehr eigen. Das Resultat sind ebenso einmalige wie großartige Weine. Sie unter einen Hut zu bringen indes, muss eine vergebliche Liebesmüh bleiben. Denn den Schweizer Wein gibt es nicht.

Die edelste aller roten Rebsorten ist tief mit Graubünden verwurzelt

Gantenbeins Pinot Noir etwa hat mittlerweile Weltruhm erlangt, doch er ist in erster Linie mit dem Namen verknüpft und erst in zweiter mit dessen Herkunft. Zweifellos hat er aber seinen Teil dazu beigetragen, dass Graubünden kein weißer Fleck mehr auf der Weltweinkarte ist. Als Herkunft für großartigen Pinot Noir mit spektakulärer Alpenkulisse wird die Region mittlerweile wahr- und ernstgenommen. Ob es tatsächlich aus dem Dreißigjährigen Krieg heimkehrende Söldner waren, die Stecklinge aus dem Burgund an die Alpen brachten, sei einmal dahingestellt.

Man mag sich auch vorstellen, dass Rucksäcke damals mit überlebenswichtigeren Dingen als mit Reben gefüllt werden wollten. Das Klima nahm sich vor fast 400 Jahren zudem höchst bescheiden aus. Dauerregen und langanhaltende Kälteperioden führten zuverlässig zu Missernten. Es herrschte die »kleine Eiszeit«. Der Wein muss entsprechend sauer und dünn geschmeckt haben. Wie dem auch immer gewesen sein mag, die edelste und anspruchsvollste aller roten Rebsorten ist schon lange tief in und mit Graubünden verwurzelt.

Anmutige Blauburgunder von Irene Grünenfelder und Annatina Pelizzati

Von seinen 420 Hektar Rebfläche entfallen heute über drei Viertel auf den Blauburgunder. Bei den Gantenbeins heißt der freilich Pinot Noir. Viele Winzer taten es ihm gleich. Und Winzerinnen. Denn bei aller undurchschaubaren Kleinteiligkeit der Schweizer Weine dürfen Irene Grünenfelder und Annatina Pelizzatti nicht fehlen, deren anmutige Blauburgunder ihre Heimat kongenial widerspiegeln. Als selbstbewusste Winzerinnen stehen sie archetypisch-atypisch für ein Land, dessen Frauen erst 1971 ihr Wahlrecht erhielten. Schlusslicht in Europa. Am Volksentscheid durften damals freilich nur Männer teilnehmen. 65 Prozent votierten mit Ja. Ein bescheidenes Ergebnis.

 

Die Schweiz ist klein und dennoch oft nur schwer zu begreifen. Sind es am Ende doch ihre Weine, die für etwas Orientierung sorgen? Die Graubündner Winzer können sich jedenfalls auf ihren Föhn verlassen. Das müssen sie auch, denn wenn jener als »Traubenkocher« bekannte Warmluftstrom im Spätsommer einmal nicht durch ihre Reben weht, kann es den Blauburgunder-Trauben bei der Lese zuweilen an letzter Reife fehlen. »Gekocht« werden sie dabei freilich nicht, wenn das karstige Klima für ein unverwechselbares Aroma in den Weinen Sorge trägt, das sich wohl am besten als alpine Strenge beschreiben lässt. Der Schweizer Wein bricht sich also doch Bahn, ist als Pinot Noir untrennbar mit Graubünden verbunden. Für einen gemeinsamen Nenner reicht das jedoch noch nicht aus.

Paradiesische Lebensqualitäten

Ebenso und doch ganz anders verhält es sich mit dem Chasselas aka Fendant. In Deutschland als Gutedel bekannt, kann der Name hierzulande zuweilen falsch verstanden werden, steht die weiße Sorte doch für meist ordentliche Vesperweine aus südbadischen Gefilden. Die gibt es auch in der Schweiz. Doch wo es beim Gutedel schnell vorbei ist, wenn es um Herkunft im Allgemeinen und um Terroir im Speziellen geht, fängt der Spaß in der Schweiz erst richtig an, wenn sich die besten Weine im Waadtland als Grand Crus an einer Lagen-Klassifizierung à la Burgund orientieren, während ihre Pendants aus dem Wallis – ebenso Grand Cru genannt – die Rebsorte in den Vordergrund stellen. Diese Vermischung von romanischem und germanischem Weinrecht macht es dem gemeinen Zecher auf der einen Seite natürlich nicht eben leichter, darf auf der anderen aber als untrüglicher Beleg für eine hochgradig individualisierte Weinkultur gelten.

Mit einer Anbaufläche von rund 15.000 Hektar ist die Schweiz in etwa so groß wie das Weinland Baden. Der Chasselas belegt in der Schweiz etwa 3.800 Hektar und ist damit die mit Abstand meist angebaute weiße Rebsorte. Zum Vergleich: In Baden ist lediglich eine Fläche von rund 1.100 Hektar mit Gutedel bepflanzt, dessen Standort und -zeiten messen sich zudem weniger an der Güte ihrer Weine als an ihrem potenziellen Ertrag. Da dürfte so manch eine Rebe geradewegs neidisch werden, wenn sie um die paradiesischen Lebensqualitäten ihrer Artgenossen am Genfersee wüsste. Die gedeihen dort nicht nur auf feinsten mineralischen Böden mit herrlichem Seeblick, sondern besitzen auch eine deutlich höhere Lebenserwartung. Ein »Clos du Boux« vom Grandseigneur des Chasselas Luc Massy etwa ist selbst beim besten Willen mit keinem einzigen badischen Gutedel zu vergleichen. Wer beide Heimaten dieser Rebe einmal besucht hat, wird das schnell verstehen. Massys Weine sind dabei frech genug, altgediente Weingesetze mal eben auf den Kopf zu stellen, wonach einem Weißwein mit sparsamer Säure in der Regel keine Prognose auf ein langes Leben ausgestellt wird.

»Eine Varietät ohne Heimat ist nichts wert.« Luc Massy

Ob Epesses, Saint Saphorin oder Dézaley, sie alle kommen (und jetzt kommt’s!) auf einen gemeinsamen aromatischen Nenner: Ihr Säuregehalt ist gering, ihre Mineralik dramatisch. Um den Schweizer Wein wieder einmal in seiner Einmaligkeit zu bestätigen und dabei an seiner Undurchschaubarkeit schier zu verzweifeln, gewinnen seine besten Exemplare mit den Jahren natürlich auch an Komplexität und Delikatesse. Dabei bringt es Luc Massy mit dem Chasselas exakt auf den Punkt: »Eine Varietät ohne Heimat ist nichts wert.« Gäbe es die Eidgenossenschaft Schweiz nicht, gäbe es auch keinen »Clos du Boux«, einen Wein, der eine Sorte feiert, die andernorts bisweilen zum Massenträger verkommen ist und mit kurzer Halbwertszeit auf der Großfläche verramscht wird.

Inmitten von Europa gelegen, ist die Schweiz kein Mitglied der EU, doch gleichzeitig so etwas wie ihr Wein-Konservatorium. Und mancherorts gewissermaßen sogar ihr Ursprung. Assoziiert man die Rhône im Allgemeinen mit französischen Rotweinen der Sorte Syrah, entspringt der Fluss doch am Rhône-Gletscher im Kanton Wallis, durchquert auf seinem Weg in den Süden den Genfersee und erreicht nach rund 270 Kilometern schließlich Frankreich. Dass aus der Sorte Syrah auch an der Quelle der Rhône exzellente Weine entstehen, ist maßgeblich Jean-René Germanier und seinem Neffen Gilles Besse zu verdanken. Ihr ebenso saftig-eleganter wie pfefferwürziger »Cayas« vereint die urwüchsigen Tugenden der Weine des nördlichen Rhônetals in Frankreich mit der feinen Frucht bester roten Gewächse aus Deutschland.

Gilles Besse und Jean-René Germanier: Ihr »Cayas« besitzt heute Kultstatuts

Rund 20 Jahre ist es her, als Germanier und Besse damit begannen, sich mit der Idee eines großen Syrahs zu beschäftigen. Nach nur einem Dutzend Jahrgängen besitzt der »Cayas« heute Kultstatuts. Bedenkt man die Rivalitäten von Ober- und Unterwallis, wo im Norden Deutsch und im Süden Französisch nicht nur gesprochen, sondern auch gelebt wird, trägt der »Cayas« – wenigstens aromatisch – seinen Teil zur Kleinvölkerverständigung bei. Und das will schon etwas heißen in einer Region, die wie kein anderes Weinanbaugebiet der Schweiz von ihrer Vielfalt lebt. Lange Zeit in Vergessenheit geraten, erleben die autochthonen Rebsorten im Wallis gerade eine kleine Renaissance. Dabei sind es wieder Gilles Besse und Jean-René Germanier, die nicht nur ein feines Händchen für Syrah besitzen, sondern der weißen Varietät Petite Arvine sowohl kraftvolle trockene Weine als auch betörende edelsüße Spezialitäten entlocken. Ihr Erfolg scheint auf die gesamte Region abzustrahlen, wenn einheimische Sorten wie Amigne, Cornalin, Resi oder Heida aus eigener Vermehrung (Selection Massale) wieder an Boden gewinnen.

Wo das Wallis auf Vielfalt setzt, konzentriert sich das Tessin auf Merlot

Lernt man die Schweiz vielerorts als mehr oder weniger komplizierte Kultur-Gemengelagen kennen, darf das Tessin getrost als »Dolce Vita« verstanden werden: In der »Sonnenstube der Schweiz« wird italienisch gelebt und gesprochen. Kein anderer Kanton schlägt sich eindeutiger auf die Seite eines Landes. Wo das Wallis auf Vielfalt setzt, konzentriert sich der Sonnenkanton bereits seit dem 19. Jahrhundert auf nur eine Rebsorte. Fast 90 Prozent der rund 1.100 Hektar großen Rebfläche ist mit Merlot bepflanzt. Dass den Weinen dieser Sorte zu Unrecht ein bisweilen langweiliger Ruf mit hoher Konsensfähigkeit vorauseilt, stellen die Tessiner Merlots nachdrücklich unter Beweis, wo sie als Charakterweine bekannt sind und von Weinliebhabern auf der ganzen Welt hochgeschätzt werden. Dank eines einmalig alpin-mediterranem Klima, dem Luganer See und dem Largo Maggiore als regulierende Reflektoren, den granit- und kalkreichen Böden haben die Tessiner Merlots das Zeug dazu, unverwechselbar zu geraten.

Der kleinste gemeinsame Nenner: »Swiss made«

Ihre besten Exemplare sind weit davon entfernt, schnell auf guten Freund zu machen, kommen in ihrer Jugend weit öfter abweisend und kompromisslos daher. Sie sind exakt das Gegenteil eines Weinstils, der weder die Sorte noch deren Herkunft, sondern allein dessen Rentabilität in den Fokus stellt. Als Großmeister des Merlots steht Christian Zündel an vorderster Front, wenn es darum geht, einen Merlot zu erzeugen, der ebenso zurückgezogen schmeckt, wie sein Winzer lebt. Wer ihm (Wein und Winzer) jedoch mit viel Geduld begegnet, wird reich belohnt. Es ist jener Wesenszug und eine sanfte Arbeitsweise, die den Winzer Zündel und seine Weine prägen. Eine Einstellung, die in unserer Zeit anachronistisch tickt. Und es dabei bisweilen sehr genau nimmt. Wo man sich im Tessin in Italien wähnt, gehen die Uhren doch nach der Schweiz. Deren kleinster gemeinsamer Nenner: »Swiss made«. Also doch.

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Wer gerne einige der erwähnten Weine probieren möchte, findet hier eine kleine Auswahl. 

Fotos: swisswine, Martin Faber (Irene Grünenfelder, Annatina Pelizzatti), Luc Massy, Domaine Jean-René Germanier