Das Weingut Ansitz Dolomytos in Südtirol gehört zu den großen Mysterien in einer kleinen italienischen Weinregion. Sein Gründer war ein genialer Weinmacher und ein miserabler Ökonom. Rainer Zierock verstarb viel zu früh. Von seinem Geist lässt sich bis heute kosten. Auf fast allen Ebenen.
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VON AXEL BIESLER
Die Suche nach Rainer Zierock und seinem vinologischen Vermächtnis wird einerseits vergeblich sein, andererseits steckt in jener Vergeblichkeit vielleicht auch sein Geheimnis. Ein Geheimnis, das es zu bewahren gilt, damit es nicht zu einem schnöden Puzzle verkommt, bei dem ein Ganzes in viele kleine Teile zerlegt und später als Legespiel wieder zusammengesetzt werden kann. Die meisten Geschichten entstehen so. Auch die über Zierock. So lassen sie sich besser oder überhaupt erst verkaufen. Wenn die nun folgende genau daran am Ende vielleicht nicht scheitert, muss ihr Ende doch unbestimmt bleiben, denn jeder Ansatz für eine schlüssige Story über den Menschen Zierock und seine Ideen bringt nur noch mehr Teile hervor und lassen das Puzzle zu einer unendlichen Aufgabe werden.
Zierocks Perpetuum mobile des Weines befindet sich in Südtirol, oberhalb von Bozen auf ungefähr 500 Höhenmetern. Ob es ein Weingut ist, lässt sich schwerlich sagen, jedenfalls gibt sich das Anwesen nicht auf den ersten Blick als ein solches zu erkennen. Und auf den zweiten vermutlich auch nicht. In seiner extravaganten Formensprache erinnert es an das Refugium eines Menschen, der sich seine Traumwelt erschaffen, vielleicht auch darin verloren hat. Wenn man will, lässt sich in Zierocks tragischer Genialität auch die eine oder andere Parallele zum Märchenkönig Ludwig II finden. Dass Rainer Zierock sein Weingut einst auch als Versteck genutzt haben mag, lässt der Weg zu ihm vermuten, der über eine nicht enden wollende schmale und kurvenreiche Straße führt.
Wer sich vor rund zehn Jahren hierher verirrt hat, wird womöglich an den Tempel einer esoterischen Sekte gedacht haben
Zufällig wird man den Ansitz jedenfalls kaum passieren. Wer sich vor rund zehn Jahren dennoch einmal dorthin verirrt hat, wird womöglich an den Tempel einer esoterischen Sekte gedacht haben, deren Mitglieder den Quastenflosser und das Pentagramm kultisch verehrten. Beide Symbole prägen das Erscheinungsbild des Weinguts noch heute. Damals lebte und wirkte ihr Sektenführer noch, der freilich gar keiner war. Zierock war zunächst einmal Schwabe mit einer großen Leidenschaft für die griechische Mythologie.
In den achtziger Jahren lehrte und forschte er als Professor für Agrarwissenschaften am berühmten »Weinbauinstitut Institutio Agrario di San Michele all’Adige« in der Provinz Trentino, wo er die Studentin Elisabetta Foradori kennen und lieben lernte. Die beiden heirateten und beschäftigten sich auf dem Weingut Foradori intensiv mit der damals fast ausgestorbenen autochthonen Rebsorte Teroldego, aus der sie 1987 ihren ersten Wein kelterten und »Granato« tauften. Während ihre Ehe nach zehn Jahren zerbrach, besitzt der tiefrote »Granato« heute Kultstatus.
Aus dem Agrarwissenschaftler ist ein Agrarphilosoph geworden, dem das Pentagramm zu einem ganzheitlichen Leitmotiv wurde
Ende der neunziger Jahre konnte Zierock gemeinsam mit einer Bekannten ein altes Gehöft nebst Weingut aus dem 13. Jahrhundert erwerben, dem er den Namen Ansitz Dolomytos gab und mit Hilfe von EU-Fördergeldern aufwendig erweitern ließ. Da Zierock mehr philosophische Visionen als merkantile Ambitionen besaß, wuchsen ihm seine Schulden bald über den Kopf. Seine Pläne, die ehemaligen Stallungen zu einem Thermalbad umzubauen und großzügige Seminarräume einrichten zu lassen, konnte Zierock nicht mehr umsetzen.
Zu dieser Zeit muss aus dem Agrarwissenschaftler auch jener Agrarphilosoph geworden sein, dem das Pentagramm nicht nur zum architektonischen, sondern zu einem ganzheitlichen Leitmotiv wurde. Selbst den Balkon des Gutshauses ließ er in ein Fünfeck verwandeln. Aus der auch als Drudenfuß bekannten geometrischen Form entwickelte Zierock eine ganze Wein(verkostungs)lehre, die er in einem schmalen Band mit dem Titel »Das Pentagon: eine Denkschrift zum agrarphilosophischen Verständnis von Rebe und Wein« veröffentlichte.
Auf etwa drei Hektar sollen schätzungsweise 150 verschiedene Rebsorten wachsen. Zierock hinterließ dazu keinerlei Aufzeichnungen
Dabei steht eine vielfältige Genetik der Reben im inneren Fünfeck des Pentagramms, die somit womöglich sowohl Zentrum als auch Ausgangspunkt des Weingeschmacks darstellt, während die fünf Spitzen des Sterns für Harmonie, Bouquet, Säure, Polyphenole und Extrakt und in jeweils gleichen Verhältnissen zueinander-stehen.
Da sich das Pentagramm in einem Zug zeichnen lässt, dessen Ende immer auch der Anfang ist, symbolisierte es in der griechischen Antike den Kreislauf des Lebens. Der sich in Zierocks Weinbergen mit ihren unzähligen verschiedenen Sorten, darunter auch etliche griechische, wenigstens auf den ersten Blick weniger geometrisch als chaotisch zeigt. Auf etwa drei Hektar sollen es schätzungsweise 150 sein. Zierock hinterließ dazu keinerlei Aufzeichnungen, was den Schluss zulässt, dass er einer bestimmten Rebsorte im Kontext eines großen Weines keine besondere Bedeutung zuschrieb.
Zierock war seiner Zeit gewissermaßen bereits ein gutes Stück voraus. Beziehungsweise zurück
Was zunächst wahllos anmutet, kommt der Varianz und schlussendlich auch dem Wein zugute. Je größer die Rebenvielfalt, desto mehr Möglichkeiten besitzen die Pflanzen, sich untereinander vor Krankheiten zu warnen und letztlich auch zu schützen. Wenn das Thema Diversität versus Monokultur auch beim Wein inklusive seiner Klone heute brandaktueller denn je ist, war Zierock seiner Zeit gewissermaßen bereits ein gutes Stück voraus. Beziehungsweise zurück, denn der sogenannte Gemischte Satz war bis zur Reblausplage am Ende des 19. Jahrhunderts die weltweit gängige Anbaumethode.
Seine »Kraut und Rüben«-Wingerte bilden – wie das Pentagramm – eine vergleichsweise komplexe und variable geometrische Figur, wogegen etwa ein neuzeitiger, exakt ausgezeilter und mit nur einem Klon bepflanzter Weinberg meist eben nur ein statisches Rechteck ist, dessen Form intensiv gepflegt werden muss, damit es einigermaßen erhalten bleibt.
Das Pentagramm übte wie keine andere geometrische Figur in der Kulturgeschichte der Menschheit eine magische Anziehungskraft aus
Die Philosophie in der Geometrie, das Gleichzeitige im Ungleichzeitigen – es sind Diskurse, deren Anfänge und Enden nicht voneinander zu trennen sind. Dem vorherrschenden Verständnis moderner Wirtschafts- und Gesellschaftsformen laufen sie vollkommen zuwider. Heute noch mehr als zu den Lebzeiten von Zierock. Gut möglich, dass er auch daran zerbrochen ist.
Das Pentagramm übte wie keine andere geometrische Figur in der Kulturgeschichte der Menschheit eine magische Anziehungskraft aus – von der Antike bis ins Mittelalter. Es ist auch noch heute in Kunst und Wissenschaft gegenwärtig, allerdings ohne, dass ihm besondere öffentliche Aufmerksamkeit oder gar Achtsamkeit entgegengebracht wird. In ihm lässt sich der »Goldene Schnitt« finden. Dass Zierock auch bei seinen Weinen auf der Suche nach ihm war, ist durchaus wahrscheinlich.
Aus einem nur 150 Liter fassenden, zigarrenförmigen Eichenholzfass mit seiner verhältnismäßig großen Holzoberfläche sollten eigentlich extrem toastig-gerbstoffige Weine zu erwarten sein
Das Gefäß, in dem er seine Moste vergären ließ, deutet darauf hin. Nach gängiger Lehrbuchmeinung sollten aus einem nur 150 Liter fassenden, zigarrenförmigen Eichenholzfass mit seiner verhältnismäßig großen Holzoberfläche eigentlich extrem toastig-gerbstoffige Weine zu erwarten sein. Dolomytos Weine sind zwar würzig, erinnern aber in keinem Fall an jene Aromen, die mit dem Holzfassausbau gewöhnlich assoziiert werden.
Die Suche nach Schokolade, Kokos oder Vanille wird damals wie heute eine vergebliche sein. Wer aufgrund der Kakophonie in Weinberg und Keller einen ebensolchen Wein erwartet, wird über die Euphonie im Glas vielleicht überrascht sein. Dabei spiegelt sie nichts anderes als die Konsequenz einer praktizierten Philosophie wider. Eine Philosophie, die sich erst dann erschließen kann, wenn man sich mit ihr auch nur im Ansatz einmal beschäftigt hat. Sie kann seinen Zecher in den Bann ziehen, einen unglaublichen Sog erzeugen.
Kakophonie in Weinberg und Keller wird zu Euphonie im Glas
Rainer Zierock verstarb 2009 und hinterließ neben einer großen Zahl gefüllter Fässer und Flaschen auch einen riesigen Schuldenberg. Die rechtmäßigen Erben lehnten dankend ab. 2013 konnte der Önologe Norbert Marginter den Ansitz Dolomytos ersteigern. Mittlerweile hat er das Weingut in die Hände seiner Tochter und deren Sohn gelegt. Die beiden werden an einem großartigen Geheimnis zu puzzeln haben. Sollten sie es einmal zu einem Ganzen zusammenlegen, haben sie es vielleicht immer noch nicht ganz verstanden.
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Fotos: Ansitz Dolomytos, Weingood, Pixabay