Weinkolumne von Axel Biesler: GASTRONOMIA


Warum schmeckt uns der eine Wein besser zu einer Speise als ein anderer. Tut er das wirklich, und wie und warum? Welche Faktoren sind es, die uns von einer Harmonie sprechen lassen? Eine Annäherung aus der Vergangenheit.

VON AXEL BIESLER

Die Harmonie von Wein und Speise ist ein weites Feld. Unzählige Abhandlungen setzen sich mit einem Thema auseinander, dessen Ziel es sein soll, Wohlbefinden bei ihren Rezipienten zu erzeugen. Wenn Empfehlungen darüber, wie, wann und womit Wein und Speise harmonisch miteinander zu vereinen sind sich im Laufe der Zeit auch immer wieder verändert haben, so ist ihnen doch eines gemein: Sie richten sich in aller Regel an ein Publikum, das sich solcherlei Genüsse auch leisten kann und legitimieren so ganz automatisch soziale Unterschiede. Was nichts anderes meint, als dass Wohlgeschmack nicht naturbedingt ist, sondern stets auch von sozialer Herkunft geprägt und dementsprechend (vor)gelebt wird.

Ein Phänomen jedenfalls, das in den sozialen Netzwerken seit einigen Jahren und rund um die Uhr befeuert wird. Doch hat dieser mediale Food- und Weinterror tatsächlich mit Genuss zu tun, oder ist er nicht vielmehr eine bewusste oder unterbewusste Sozialstatusmeldung? Als Wegbereiter der Gastronomiekritik gilt der französische Jurist und Literat Grimod de la Reynière (1758 bis 1837), dessen Buch »Grundzüge des gastronomischen Anstands« rund 20 Jahre nach Ausbruch der Französischen Revolution (1789) erschien und sich ebenso köstlich wie humorvoll mit der Kulinarik in diesen bewegten Zeiten auseinandersetzt. Nicht nur sprachlich, auch inhaltlich ist es bis heute eine überaus empfehlenswerte und vergnügliche Lektüre. Mit reichem Erbe ausgestattet, konnte es sich Reynière leisten, über ein Luxusproblem wie das der Feinschmeckerei zu berichten, die strenggenommen Ende des 18. Jahrhunderts erst ihren Anfang nahm. Als sich die Angehörigen des Adels entweder auf der Flucht oder unter der Guillotine wiederfanden (auch Reynière war Spross einer amtsadeligen Familie, blieb von Verfolgung und Fallbeil allerdings verschont), standen ihre Köche und Bediensteten buchstäblich auf der Straße.

Als sich die Angehörigen des Adels entweder auf der Flucht oder unter der Guillotine wiederfanden, standen ihre Köche und Bediensteten buchstäblich auf der Straße

Es sollte nicht lange dauern, bis sie ihre ersten eigenen Lokale eröffneten. Aus Schloss- wurden Restaurantküchen. Der Beginn einer mannigfaltigen französischen Gastronomielandschaft, die zu studieren und letztlich auch zu kritisieren zur leidenschaftlichen Lebensaufgabe von Reynière wurde. Die »Grundzüge des gastronomischen Anstands« mit ihrem anschließenden Küchenkalender bilden das Substrat seiner jahrzehntelangen Feinschmeckerei. Sein Werk ist gleichermaßen Genussknigge wie kulinarisches Zeugnis seiner Zeit. »Von der Weise, auf welche die Weine zu servieren und zu trinken sind«, lautet das sechste Kapitel, das auch im Kontext eines zeitgemäßen Verständnisses einer gelungenen Vermählung von Speise und Wein in vielerlei Hinsicht bemerkenswert ist.

Um eine harmonische Verbindung herzustellen (tatsächlich scheint dieser technisch anmutende Begriff an dieser Stelle passend), ist es heutzutage üblich, bestimmte Weiß- oder Rotweine zu bestimmten Produkten und ihren Zubereitungsarten zu empfehlen. Von Gleichklang und Kontrast ist da häufig die Rede. Zum Fisch darf es auch gerne mal ein Roter sein und zum Käse viel öfter ein Weißer. Dabei kann sich so manch gutgemeinter Ratschlag bisweilen zu einem strengen Befehl generieren, zum Gegenteil dessen, worum es im Kern der Sache eigentlich geht: Wohlbefinden.

Reynière verfolgte einen anderen Ansatz

Andersherum stellt die neumodische und gern zitierte Redewendung »Jeder nach seinem Geschmack« zwar Sättigung und Rausch in Aussicht, ein Garant für Genuss ist sie damit aber noch nicht. Reynière verfolgte einen anderen Ansatz. Um Harmonie beim Essen und Trinken zu begünstigen, ist für ihn das Ambiente im Kleinen und Großen von ebenso entscheidender Bedeutung wie die Qualität der Produkte, die Reynière in seinem Küchenkalender vielmehr ihrer jeweiligen Saison und Regionalität zuordnete als einer irgendwie gearteten zeitgemäßen kulinarischen Mode. Der Kontext, Speise und Wein aufzutragen und zu rezipieren, so ließe sich sein lukullisches Kompendium vielleicht zusammenfassen, trägt entscheidend zum Wohlbefinden bei. Und diesbezüglich war er ebenso wählerisch wie extravgant.

Das mag bedingt mit Trunklust und Völlerei etwas gemein haben, hat es aber  gleichzeitig zu einem Schlüsselelement in der Wahrnehmungspsychologie gebracht: So kann sich eine entsprechende Einrichtung in einem Krankenhauszimmer ebenso positiv auf die Genesung eines Patienten auswirken, wie die spezielle Beleuchtung einen Kunden im Supermarkt zum Kauf eines bestimmten Produkts anzuregen imstande ist. Und manch eine Restaurantkritik macht den Leser bisweilen glauben, dass nicht die Gerichte, sondern das Ambiente die Bewertung eines Testessers maßgeblich beeinflusst hat.

Die Flaschen gehören auf den Tisch

Reynière war ein Kulinarik-Pionier. So verachtete er etwa die vorrevolutionäre Sitte des Adels, dass Wein nur von einem Diener aus- und nachgeschenkt werden durfte, was die Eingeladenen zuweilen zu Bittstellern degradierte, wenn ihre leeren Kelche nicht rasch genug wieder befüllt wurden. Ein Umstand, mit dem sich der Gast auch heute zuweilen herumschlagen muss, weil der Kühler zu weit von ihm entfernt steht oder der Mundschenk gerade anderes zu tun hat. Für Reynière gehörten die Flaschen nicht in die Hände der Lakaien, sondern auf den Tisch, damit sich jeder und nach Gusto nachfüllen konnte. Während der sogenannte Tischwein (weiß und rot) jederzeit bereitzustehen hatte, wurden die Zwischenweine ausschließlich zu den jeweiligen Gängen serviert.

Bemerkenswert dabei ist, dass Reynière in seinem Buch einzig beim Tischwein eine Empfehlung zu seiner Art ausspricht. Und das auch nur zum Weißen: »In der Regel wird dazu der vorzügliche Chablis aus den Weinbergen des Herrn Chéron benutzt.« Ob Reynière damit auch auf dem Gebiet der unheilvollen Verquickung gekaufter Bewertungen im Deckmantel kritischer Integrität ein Vorreiter war, muss eine Mutmaßung bleiben. Weil vielen Restaurantteuren seine zuweilen scharf formulierten Kritiken nicht nur übel aufstießen, sondern Reynière sich von den Gatronomen auch massiv bedroht sah, zog er sich schließlich aus Paris und aufs Land zurück. Seiner Leidenschaft blieb er bis zu seinem Tod treu. Jedenfalls finden Weinbauregionen oder Erzeuger in seinem Werk ansonsten keinerlei Erwähnung. Geradewegs kurios mutet eine Passage an, in der Reynière über einen »Mittrunk« berichtet. Eine Art Bitterlikör, der nach dem Fleischgang in den Restaurants serviert wurde, um die Verdauung anzuregen. Reynière lernte das Getränk offenbar erstmals in der Region Bordeaux kennen. Über ihre Weine verliert er kein Wort, wiewohl diese bereits damals einen exzellenten Ruf besaßen.

Timothy Leary entwarf das Postulat »Set und Setting« (rechts die Witwe von Aldous Huxley, Laura Huxley)

Auch dies mag Beleg für seine Annahme sein, dass nicht die Zusammenführung bestimmter Weine mit bestimmten Speisen entscheidend zum Wohlbefinden beitragen, sondern ihr Kontext. Wozu schlussendlich auch die Verdauung zählt. Etliche Ratgeber beschäftigen sich heute wieder mit diesem Inhalt [sic!] und schafften es zuletzt sogar auf die Bestsellerlisten. 2014 veröffentlichte die junge Medizinerin Giulia Enders »Darm mit Charme«. Das Buch wurde über Nacht zum Kassenschlager, der Titel mittlerweile in 40 Sprachen übersetzt und ist in seiner 13. Ausgabe bis heute erfolgreich im Verkauf. Enders hat offensichtlich einen empfindlichen Punkt getroffen, über den lange Zeit kaum mehr in der Öffentlichkeit gesprochen wurde. Der Einfluss der Verdauung auf das Wohlbefinden wich im Laufe der Zeit einer peinlich-berührten Prüderie.

Bei Reynière hängt sie unmittelbar mit Genuss zusammen. Dass er bei seinen zahlreichen Restaurantbesuchen von »Verdauungsvisiten« spricht, ist daher wenig verwunderlich. Und letztendlich stammt auch das Wort Gastronomie vom Griechischen gastronomia ab, das nichts anderes als Magenkunde bedeutet. An dieser Stelle wagen wir einen Sprung in die Gegenwart, dessen Ansatz von Reynière gleichzeitig nicht weit entfernt liegt: Um Wohlbefinden hervorzurufen, empfahl der US-amerikanische Psychologe Timothy Leary (1920 bis 1996) den Konsumenten psychedelischer Drogen, diese nur in einer entsprechend behaglichen Umgebung zu konsumieren. Woraus er das Postulat »Set und Setting« entwickelte. Und jeder ehrliche Zecher weiß, dass die beste Flasche Wein nur wenig wert ist, wenn seine Stimmung getrübt und die Umgebung unbehaglich ist. Wie Leary ging es auch Reynière darum, das bestmögliche Ambiente zu schaffen, damit dem Genuss am Ende so wenig wie möglich im Wege steht.

Eine behagliche Umgebung fördert den Genuss

Aus heutiger Sicht mögen sich seine »Grundzüge des gastronomischen Anstands« an manchen Stellen als allzu streng oder gar steif verstehen. Doch darüber lässt sich leicht hinweglesen, wenn wir bedenken, dass das Buch vor über 200 Jahren entstanden ist. Als Nostradamus der Glaskultur beweist sich Reynière gar, wenn er schreibt: »Der wahre Schmuck des Weins ist sein Alter, nicht der Glanz seines Gefäßes, in welchem er funkelt. Er würde auch nur umso besser munden, wenn man ihn aus recht dünnwandigen Gefäßen tränke. Die Kristallgläser schaffen einen zu großen Abstand zwischen Flüssigkeit und der Lippe des Trinkers und sind daher dem Schmecken hinderlich.«
Was die Köche des Adels auf die Teller und seine Haushofmeister in die Gläser brachten, wusste Reynière durchaus zu schätzen, seine manierierten Marotten waren ihm meist zuwider und dem Wohlbefinden nicht förderlich.

Die Harmonie von Wein und Speise ist ein weites Feld. Klassiker bleiben, Vorlieben verändern sich. Die vielgepriesene Harmonie von Wein und Speise kann Genuss versprechen – ob sie ihr Versprechen hält, kann niemand besser beurteilen als diejenigen, die genießen. Oder eben auch nicht. Einen gustatorischen Imperativ gibt es nicht. Die Bedingungen für Genuss lassen sich beeinflussen, ganz unabhängig davon, auf welchem kulinarischen Niveau man sich bewegt. Wir wollen dieser Abhandlung deshalb auch keinerlei allzu konkrete Empfehlungen folgen lassen, sondern lediglich den köstlichsten Wunsch, dass jedermann und jedefrau sich gut fühle, wenn er oder sie und am besten gemeinsam genießen. Oder wie Reynière es zu seiner Zeit formulierte: »Vor dem Gesetz und bei Tische haben alle gleiche Rechte und gleiche Pflichten. Die Tafel macht uns alle gleich.«

Fotos: Pixabay, Wikipedia (Grimod de la Reynière), shutterstock (Timothy Leary)